Sechsmal tödlich. Kriminalroman by Pierre Boileau
Autor:Pierre Boileau [Boileau, Pierre]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105617878
Herausgeber: FISCHER Digital
7
Samstag, der 7. Juni. Mein Leben lang werde ich dieses Datum nicht vergessen.
Seit gut einer Woche hatten wir das Haus Rue du Commerce 49 a vergebens überwacht, und ohne es uns einzugestehen, waren wir alle überzeugt, unsere Zeit zu vergeuden, und daß der geheimnisvolle Mieter nie wieder den Fuß in seine Wohnung setzen werde. Entweder, weil er mißtrauisch geworden war, oder auch, weil für ihn kein Grund zur Rückkehr in seine provisorische Behausung mehr bestand.
Ich wollte meinen fünften Wachdienst antreten und kam zu früh; meine Zeit begann erst um drei, aber es war kaum Viertel nach zwei. Im Autobus, der mich nach Grenelle brachte, dachte ich wieder über alle Einzelheiten dieser Tragödie nach, die sicherlich eine der ungewöhnlichsten unter den in der Kriminalgeschichte verzeichneten war, und die vielleicht niemals aufgeklärt werden würde. Sofern der Mörder nicht nochmal etwas unternahm und sich dabei so ungeschickt verhielt, daß er uns eine Möglichkeit bieten würde, ihn zu schnappen.
Genau das hatte eine große Morgenzeitung sehr treffend in der lapidaren Schlagzeile zusammengefaßt:
Worauf wartet die Polizei noch? Auf ein weiteres Verbrechen?
Die Zeitungen waren voll von Aufnahmen der Opfer und der Tatorte. Man sah die Wohnung in der Rue Greuze; das Fenster, aus dem Madame Vigneray um Hilfe gerufen hatte, war durch ein Kreuz bezeichnet worden; man sah Maître Charasses Büro, das Landhaus bei Le Mans mit dem vergitterten Fenster und den eisernen Läden, «die jedem Versuch trotzten», und der dicken Eichentür, «durch die der Verbrecher vergebens einzudringen versucht hatte».
In den Witzblättern war eine Lawine von Karikaturen erschienen. Eine davon errang wahre Triumphe. Die Zeichnung war zweiteilig; auf der einen Seite, sehr dünn hingestrichelt, sah man einen Mann mit dem Revolver im Anschlag; auf der andern, in kräftigen Strichen, die Schar der mit dem Fall beauftragten Beamten. Darunter konnte man lesen: «Der, von dem man nicht genug sieht», und: «Die, von denen man viel zu viel sieht.»
Auch André Brunel war nicht geschont worden. Er wurde beim Tischrücken dargestellt: «Geist Sherlock Holmes’, inspiriere mich!»
Madame Vignerays Operation war gut verlaufen. Das Geschoß hatte entfernt werden können; aber für die arme Frau war das Schlimmste noch lange nicht überstanden. Ihr Schwächezustand verbot nach wie vor jede Vernehmung. Da man befürchtete, jede Erregung könne für die Verletzte von verhängnisvoller Wirkung sein, hatten die Ärzte sogar jeden Besuch verboten.
Mit lebhaftester Besorgnis verfolgten Beamte und Öffentlichkeit die täglichen Berichte über ihren Zustand. Ganz sicher wünschten viele mehr aus Hoffnung auf irgendeine sensationelle Enthüllung als aus reiner Menschlichkeit eine baldige Besserung im Befinden der unglücklichen Frau.
Es erübrigt sich, zu sagen, daß das aus der Wunde entfernte Geschoß aus dem gleichen Revolver stammte wie die andern Geschosse.
Selbstverständlich war über die Fährte, die wir durch die Posteinlieferungsscheine aufgespürt hatten, absolutes Stillschweigen bewahrt worden. Der völlig wiederhergestellte Roland Charasse hatte unsere kleine Wachmannschaft vergrößert. Er hatte bisher nur einmal Wache geschoben.
Inspektor Magloire, den ich ablösen sollte, war gerade mit dem Mittagessen fertig. Er erwartete mich, die nicht angesteckte Zigarre im Munde. (Es war Weisung erteilt worden, nicht zu rauchen. Der Lichtschein hätte durch die Gardine hindurch gesehen werden können.
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